
Mein Vater war immer schon ein ruhiger Mann. Jetzt spricht er so gut wie gar nichts mehr.Er hat seit einigen Jahren eine parkinsonähnliche Erkrankung, und das ist wahrscheinlich schlechter als Parkinson, weil diese Krankheit so gut wie gar nicht erforscht ist. Die meiste Zeit sitzt er im Rollstuhl. Er kann sich weder alleine waschen, noch Zähne putzen, noch anziehen. Eigentlich braucht er bei allem Hilfe. Auch das Nicht-Sprechen hat damit zu tun. Irgendwann wird sogar das Schlucken immer schlechter.
Seine Geschichte hängt sehr stark mit dem Nationalsozialismus in Deutschland zusammen: Mein Vater wurde 1936 in der Nähe von Nürnberg geboren und dann von seiner Tante und seinem Onkel im Schwäbischen Erbstetten adoptiert. Dass er adoptiert wurde hat er als Jugendlicher zufällig auf der Straße erfahren.
Sein Adoptivvater, also mein „Grossvater“, war kein wirklich netter oder guter Mensch. Im Gegenteil. Er wollte einen Arbeiter für seinen Betrieb, den Stern. Mein Vater war für ihn mehr ein Gehilfe, nicht ein lang ersehnter Sohn. Ausserdem war er Nazi. Und mein Vater war, so vermutete sicherlich auch mein „Grossvater“, der Nachkomme eines jüdischen Mannes. Ich habe mit diesem „Grossvater“ 15 Jahre zusammengelebt. Für ihn war ich der „Bastard des Bastards“. Bei mir ist bis heute ein diffuses, aber grundsätzliches Gefühl von „nicht-richtig-sein“ geblieben. Ein Gefühl, von Anfang an gar keine Chance zu haben. Ablehnung qua Herkunft. Manchmal denke ich dieses Gefühl verbindet meinen Vater und mich sehr. Auf jeden Fall verbindet uns das Gefühl nicht zu wissen, woher wir eigentlich kommen.
Als mein Vater damals erfuhr, dass er adoptiert wurde, ist er nach Stuttgart gegangen, da war er noch nicht volljährig. Er hat dort ein paar Jahre auch als Bäcker gearbeitet. Später ist er in den Stern zurückgekommen und hat dann doch den Betrieb übernommen. Allerdings unter zähen Kämpfen mit den Adoptiveltern, die ihm und meiner Mutter allerlei Hinternisse in den Weg gelegt haben.
Als Kind war ich ein paar Mal in Nürnberg und habe die leibliche Mutter meines Vaters und seine Halbgeschwister kennengelernt. Eine humorvolle und lebenslustige Familie. Ich war gerne dort. Kurz vor ihrem Tod hat ihn seine Mutter um Verzeihung gebeten. Ich war damals im Krankenhaus dabei, als sie im Sterben lag. Damals hat sie alle gebeten das Zimmer zu verlassen, ausser meinen Vater, der sollte bleiben. Es muss eine unglaublich Last für sie gewesen sein, ihr Kind zur Adoption zu geben, das konnte ich damals gut spüren.
Mein Vater ist ein sehr netter und hilfsbereiter Mensch, ein klein wenig misstrauisch vielleicht, wer möchte es ihm verdenken. Meine Mutter wuchs in unmittelbarer Nachbarschaft von meinem Vater hier im Dorf auf. Sie sind seit 56 Jahren glücklich verheiratet. Bewundernswert ist ihr respektvoller Umgang miteinander, die Zuneigung für einander ist wirklich zu spüren. Das ist sehr schön zu erleben. Ich freue mich, dass meine Eltern fremden Menschen sehr frei von Vorurteilen begegnen. Sie sind grundsätzlich offen und neugierig. Sie sind grosszügig. Sie mögen die Menschen, obwohl sie beide nicht immer gute Erfahrungen mit ihnen gemacht haben. Bewundernswert.



Liebe Sasa, vielen Dank dass Du die Geschichte deines Vaters mit uns teilst. Immer wieder macht es mich traurig, dass Menschen nicht einfach freundlich miteinander sind und einander so viel Leid zufügen. Besonders die Idee irgendwie nicht richtig zu sein ist doch völlig überflüssig und so tief schmerzhaft und verunsichernd. Gut, dass es auch immer die Gegengewichte gibt: Liebe, Freundschaft, Fürsorge und Vertrauen. Lasst sie uns schwerer wiegen.
Das machen wir!