Im August vor 20 Jahren bin ich nach Karlsruhe gezogen. Manches fühlt sich heute ähnlich an wie damals. Ich war auch arbeitslos, viel alleine und es war auch Sommer. Damals fühlte ich mich hingegen irgendwie unverletzlich. Unbekümmert. Und ich war absichtlich arbeitslos. Ich bekam Geld vom Arbeitsamt. Ich hatte keine Sorge, dass ich nicht auch in Zukunft Geld verdienen könnte, wenn ich das wollte.
Aber ich wollte unbedingt mein Taijiquan verbessern und so hatte ich sehr viel Zeit mich dieser Kunst ganz und gar zu widmen.
Wie gesagt manches erinnert mich an diese Zeit, auch wenn vieles heute ganz anders ist. Die Unbekümmertheit zum Beispiel. Damals war es ein grundsätzliches, aber unbewußtes Lebensgefühl. Ich hätte mich niemals als unbekümmert beschrieben. Ich glaube das Gefühl der Unbekümmertheit zeichnet sich meist durch eine gleichzeitige Abwesenheit von Bewusstsein darüber aus. Aber auch heute im Jahre 2020 erlebe ich das Gefühl der Unbekümmertheit. Jedoch immer nur für kurze Augenblicke, wie eine zarte Erinnerung an etwas längst Vergangenes. Dann werden meine Schritte ganz leicht und plötzlich gehe ich beschwingt durch diese Welt. Und vor allen Dingen ist es mir sofort bewußt, dieses Gefühle der Leichtigkeit und der Zuversicht. Ich genieße diese Momente, denn sie sind rar und flüchtig geworden. Das Gefühl der Unverletzlichkeit ist schon länger verblasst. Die Unbekümmertheit immer seltener geworden. Immer öfter spüre ich heute auch die ganze Palette von gegenteiligen Gefühlen: Angst und Sorgen. Schwere und Trauer. Sorgen um meine berufliche Zukunft, Trauer und Sorgen um meine Eltern, um Freundinnen, die nun in prekäre Verhältnisse geraten könnten oder auch um Projekte und Kultureinrichtungen, für die wir teilweise auch so hart gekämpft haben. Angst um die lesbisch-feministischen Projekte, wie die wenigen verbliebenen Frauenbuchläden. Oder die Frauen-Weiterbildungseinrichtungen und die Frauenferienhäuser. Auch um die Theater, Museen oder Musik-und Konzert-Häuser oder die Kneipen sorge ich mich. Die sogenannte alternative Szene: wird sie sich über diese Epidemie retten können?
Doch noch einmal zurück zu den eher unbekümmerten Zeiten. Obwohl…
Ende August 2000 kam ich von einem mehrwöchigen Trainingsaufenthalt aus China zurück. Zuvor hatte ich noch schnell meine Kartons in die neue Wohnung in Karlsruhe gestellt und ohne, dass die Wohnung richtig eingerichtet war bin ich nach Hongkong geflogen. Meinen Rückflug hatte ich nach Berlin gebucht. Dorthin war nämlich zur gleichen Zeit Heike gezogen. Wir hatten davor noch zusammen gewohnt, auf der Ostalb, in Aalen. Sie wollte nach Berlin wegen einer Schauspielausbildung. Ich wollte auf gar keinen Fall nach Berlin. Eher nach Hamburg, weil es dort den besten Taiji-Unterricht in Deutschland gab. Die Zeit am Aalener Theater war für uns beide vorbei und so war damals die Frage: was nun? und wo?
Zwei Jahre zuvor hatte ich während der Gaygames in Amsterdam Anete, Ulli und noch ein paar Frauen bzw. Lesben aus Karlsruhe kennen gelernt. So kam es, dass ich überhaupt in meinem Leben mal nach Karlsruhe kam und was ich dort gezeigt bekam hat mir sehr gut gefallen. Als ich dann auch noch einen guten Taijilehrer in Karlsruhe fand dachte ich: es geht doch nichts über Süddeutschland. Mehrere, teils monatelange Aufenthalte in Hamburg bestärkten damals meine Befürchtung, dass ich mit dem ewigen, grauen und trüben Hamburger Winter sowieso so meine Schwierigkeiten hätte. Ja, das waren noch Probleme damals.
Wie gesagt mein Rückflug aus China führte mich also direkt nach Berlin. Heike hat mich vom Flughafen abgeholt und sehr schnell habe ich gespürt, dass irgendetwas nicht stimmte. Es ist schwer seiner besten Freundin erzählen zu müssen, dass eine sehr wichtige Frau in deren Leben gerade eben gestorben ist. Birgit Windhüfel, meine Ausbilderin im Wendo, eine Frau die ich sehr geliebt habe. Mit der ich über Jahre durch so manche Höhen und Tiefen gegangen bin. Birgits und meine Wege trennten sich, als ich Anfang der 90 Jahre, Tübingen und damit meine ganzen politischen und eben auch die Wendo-Zusammenhänge verlassen habe um auf die Ostalb zu gehen. Es war ein krasser Schnitt und ein krasser Schritt. Ich ging nämlich zu den sogenannten Schiran-Frauen um dort eine auf drei Jahre angelegte schamanische Ausbildung zu durchlaufen. Birgit fand das nicht gut. Sie wollte nicht, dass ich mit Wen-do aufhöre. Ich aber hatte das Gefühl, wenn ich nicht gehe sterbe ich. Ja. So dramatisch.
Die 80er Jahre hatten mich ausgebrannt. Die andauernden Kämpfe waren zermürbend. Die permanente Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen innerhalb des Wendo gab mir dann den Rest. Meine Seele war wund. Ich musste etwas unternehmen. Das Schlimmste war damals für mich hilflos zuzuschauen, wie die Onkel und Väter, ihre kleinen Mädchen, von denen wir wußten, oder ahnten, dass sie Gewalt in der Familie erleben, wieder abgeholt haben nach unseren Kursen. Das und die zunehmende Aggression, die Wut auch gegen Frauen, die ich bei Birgit und mir feststellen musste. Ich dachte, wie kann das sein? Wir waren zunehmend sauer auf die Frauen, und dass sie diese Gewalt gegen sich selbst und andere Frauen zulassen. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich hatte damals wirklich das Gefühlt das läuft in keine gute Richtung. Ich bin gegangen und das war auch gut so.
Die ersten zwei bis drei Jahre auf der Ostalb kamen mir vor wie eine Kur. Nur aufbauen, erholen, langsam ganz langsam wieder zu Kräften kommen, wieder gesunden. Wunderbar. Nach ein paar weiteren Jahren, also Ende der 90 Jahre kam dann der Wunsch noch tiefer ins Taijiquan einsteigen zu wollen. Dafür bin ich dann sehr viel gereist. Innerhalb Deutschlands und Europas und eben auch nach China. Alles nur um den besten Unterricht zu bekommen.
Ein paar Monate bevor ich nach China geflogen bin habe ich Birgit angeschrieben weil ich erfahren hatte, dass sie Krebs hat. Wir hatten jahrelang nichts voneinander gehört. Ich war sehr froh und erleichtert, dass sie wohlwollend und einladend auf meinen Brief (so richtig auf Papier und mit der Post) reagiert hat. Wir haben dann durch einige Briefe und Telefongespräche unsere ganze Beziehung „aufgearbeitet“ und uns vollkommen ausgesöhnt.
Dafür bin ich unendlich froh.
Ich hatte sie damals auch eingeladen mit nach China zu kommen, weil ich wusste, dass sie sich für das Land und auch die Kampfkunst interessierte. Da wir einige tolle Reisen zusammen gemacht haben wußte ich das das schön werden würde. Das ging aber aufgrund ihrer Krebs Therapie nicht. Wir haben keinen Termin gefunden und haben so unser Wiedersehen auf sofort nach der China-Reise verschoben.
Tja. Das ist mir bis heute eine große Lehre.
Trotz ihrer Erkrankung war damit nicht zu rechnen. Kurz bevor es ihr dann klar wurde, dass sie jetzt bald stirbt hat sie noch gesagt, dass ich ja wahrscheinlich noch in China bin und ev. nicht zur Beerdigung kommen kann.
Ich kam aber einen Tag vor der Beerdigung in Berlin an, so dass ich am nächsten Morgen weiterfahren konnte zur Beerdigung nach NordRheinwestfalen.
Eine der schönsten Beerdigungen, die ich bis dahin erlebt habe. Schon auf dem Bahnsteig in Berlin habe ich Frauen getroffen, die auch auf dem Weg zu Birgits Beerdigung waren. Ich kann mich da zum Beispiel noch an Traude Bührmann erinnern. Unterwegs wurden es immer mehr. Es war wie ein Sternenlauf. Von überall kamen die Frauen angereist. Die Zeremonie war halb von der Familie und halb von der „Barke“ (ein alternatives, lesbischen Beerdigungsinstitut, welches aus einer dieser schamanischen Ausbildungsgruppen entstanden ist – fun fact könnte eine sagen) organisiert.
Ich war sehr froh, dass ich wenigstens dafür noch gerade rechtzeitig aus Asien zurückkam.
Immer wieder denke ich daran, wenn ich Heute ein Treffen mit Freundinnen aufschieben möchte. Und mache es dann lieber nicht. Das aufschieben, meine ich.
Aber jetzt Corona. Grosser Mist!
Ich hoffe wir können uns alle bald wiedersehen.
Fühlt euch umarmt.
Sasa
